20 Jahre, 30 Jahre Pascal, 1. September 20231. September 2023 Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht bei den Neulandrebellen reinschaue. Gerade mit Roberto de Lapuente fühle ich mich auf eine Art geistig verbunden, die für mich ungewöhnlich ist, da ein bestimmendes Gefühl meines gesamten Lebens das ist, dass ich mich überwiegend von den Menschen unfreiwillig distanziert und entfremdet fühle. Auch heute hat Roberto wieder geschrieben, ein Text, der bei mir viel losgetreten hat. Ich vermute, wir sind beide +/- derselbe Jahrgang, also um das Jahr 1978. Mein Blick 30 Jahre zurück zeigt unglaublich viele Parallelen mit Robertos Schilderungen, aber dann auch wieder ebenso riesigen Diskrepanzen. So sehr vertraut ist auch mir das Gelaber der Erwachsenen über den Ernst des Lebens, der dereinst uns Möchtegerne ebenso erfassen wird wie er alle Generationen vor uns irgendwann einmal schon in den Sack gepackt hat. Durch meine Krankheiten und die vielen, langen Krankenhausaufenthalte schob sich bei mir die Frage nach meiner Zukunftsgestaltung länger hinaus als bei Roberto. 1993, also mit 15 war ich rückblickend alleine mit der Fragestellung, wie denn die eigene Zukunft zumindest ’so in etwa‘ aussehen könnte, völlig überfordert. Konkrete Entscheidungen zu treffen, wie der Rest des Lebens dann fortan auszusehen hätte, wären unvollstellbar gewesen. Gerade in Anbetracht meiner Herkunft als Arbeiterkind und meinen Eltern als – meiner naiven Empfindung nach – schlechtes Vorbild, war der Gedanke, mit 15-16 eine, für alle Zeiten gültige Entscheidung treffen zu müssen, die in der Folge den Rest meines Lebens abschliessend definieren würde, eine regelrechte Horrorvision. Nichts war für mich schlimmer als der Gedanke, beruflich wie meine Eltern zu enden, also 40 Jahre und mehr immer dasselbe tun zu müssen, weil einem eben nichts weiter zur Verfügung steht als seine Arbeitskraft, die man somit zwangsläufig zu Markte tragen muss. Natürlich war die Realität Mitte-Ende 90er bereits die, dass Berufsbiographien wie die unserer Elterngeneration, nämlich 40 Jahre im selben Berufsfeld, vielleicht sogar am selben Arbeitsplatz von der Realität des superfluiden, amorphen Einzelkämpfers der neoliberalen Epoche längst überholt worden waren. Dass die Aufrichtigkeit seitens der Eltern wie auch der Lehrerschaft gegenüber ihren Kindern und Schülern nicht gegeben war, sei nur nebenbei erwähnt. Unabhängig davon, was noch von der alten Arbeitswelt übrig geblieben war, wollte ich dort unter keinen Umständen hin. Jugendliche Arroganz Dazu muss ich heute auch einräumen, dass ich damals von einer unglaublichen Überheblichkeit getrieben war, der Vorstellung, ich sei eben etwas Besseres als bloss dieses Arbeiterkind, welches zwar über enorme Begabungen und eine hohe Intelligenz verfügt, andererseits aber dennoch rundherum auf eine sublime Art von allen verachtet wird – zugegebenermassen weniger aufgrund seiner Herkunft als vielmehr aufgrund seiner charakterlichen Eigenschaften als aufmüpfiges, verhaltensauffälliges Kind. Verstärkend kam dazu, dass ich gerade aufgrund meiner schulischen Begabungen – wohlverstanden der kognitiv-intellektuellen Fähigkeiten, nicht der sozialen (in Wahrheit gänzlich fehlenden) Kompetenzen wegen – irgendwann in einem sehr elitären Bildungsmilieu gelandet war, welches uns dumm-naive Heranwachsende, wider jede Vernunft, als eine Art zukünftige Führungselite des Landes bezeichnete. Welches Kind, welcher pubertierende Teenie fühlt sich bei solchen Ankündigungen nicht in seinem hormongetriebenden Narzissmus bestätigt. Die Welt, nein, das gesamte Universum dreht sich dann noch einen Zacken schneller um seinen eigenen Mittelpunkt, nämlich diesen pubertären Dummkopf, der glaubt, alles zu wissen, alles zu können, zwar in jederlei Beziehung völlig selbstunsicher, aber eben dennoch mit einem aufgeblasenen Ego. Der Geist des Neoliberalismus war damals, mitte der 1990er bereits völlig entfesselt und die Slogans jener Tage, auch bereits bei uns Volksschülern war, dass man alles im Leben erreichen kann, wenn man sich nur genügend anstrenge. Kameraden waren wir Schüler untereinander schon lange nicht mehr, ich selbst ohnehin nie, ich wiederhole: ständiges Gefühl der Entfremdung.Jeder stand mit jedem anderen in Konkurrenz. Jeder Mitschüler konnte einem eine hochwertige Ausbildungsstelle oder einen Stuhl in einer weiterführenden Schule streitig machen; denn trotz unseres Alters und der pubertären Naivität wussten wir alle sehr genau, wider alle anderslautenden Verheissungen, in einer Welt der beschränkten Möglichkeiten zu leben. Ressourcen sind nicht erst seit Corona, Inflation, Energiekrise, Klima- und anderen (Schein)Krisen beschränkt. Sie waren schon damals beschränkt. Die weiterführenden Schulen, Gymnasien wie auch berufsbildende Mittelschulen platzten aus allen Nähten. Notdürftig wurden Baucontainer als Schulzimmer hergerichtet, um die Engpässe in den vorhandenen Gebäuden zu kompensieren. Das alles war bekannt und der Wettbewerb zwischen uns Schülern wurde mit dem elitären Dünkel, der uns in die Köpfe gehämmert worden war, weiter verschärft. Nach jeder Prüfung verglich man seine Benotungen mit denen der Mitschüler. Jeder wollte der oder die Beste sein. Niemand war mehr mit irgendetwas zufrieden, schon gar nicht mit Mittelmass, obwohl es bekanntlich nicht nur immer Schüler im Mittelmass, sondern auch schlechte Schüler geben muss. Freilich wollte niemand dort rangieren, weswegen man ranklotzen musste, egal wie, egal um welchen Preis, und sei es mit dem Verzicht auf alle möglichen Freizeitaktivitäten. Nun war lernen für mich keine besondere Herausforderung, sondern eher ein Selbstläufer. Ranklotzen in meinem Fall bedeutete also der Aufstieg in die Gruppe der sehr guten Schüler, obwohl es auch dann nie genug war. Eine 5 war nicht hinnehmbar. Es musste eine 5,5 oder gar eine 6 sein, mit weniger war ich nie zufrieden. Gelang es nicht, meine Erwartungen an mich selbst zu erfüllen, gab es Selbstkasteiung, selbst auferlegter Verzicht auf alles, was noch einen Ausgleich zum Pauken geboten hätte. Der Teufelskreis beginnt Zugegeben habe ich mir trotz selbstauferlegtem Züchtigungsregime gewisse Freiheiten eingestanden. Mit Freunden abends rumhängen, liess ich mir nicht nehmen. Dort gebärdete ich mich bewusst als Underdog, was ich aufgrund der Umstände, die sich wider allen Bemühungen, zu einer wie auch immer gearteten Elite zu gehören, gewiss auch war; denn ich gehörte nicht dazu. Es gab auch in unserer Klasse andere Arbeiterkinder, sogar ganz wenige aus dem Präkariat. Diese wurden in dem Sinne nicht gerade diskriminiert oder gar geächtet, standen aber dennoch in der verstecktgehaltenen, internen Hackordnung hinter den Kindern aus Ärztefamilien, Beamten und leitenden Angestellten zurück. Da ich Schmähung seit frühester Kindheit am eigenen Leib erfahren hatte, war dies besonders schmerzhaft und weitere Ansporn, dazu gehören zu wollen. Zu was eigentlich? Rückblickend kann ich dies nicht genau eingrenzen. Sicherlich war die Zugehörigkeit zu den Klassenbesten das allerwichtigste, schliesslich hing davon auch die eigene Zukunft massgeblich ab. Ohnehin war meine Strategie seit meinem Eintritt in das System Schule 1984 jene, die besagten persönlichen Defizite in Bezug auf soziale Kompetenzen mit intellektuellen Leistungen aufwiegen, kompensieren zu wollen. Wie fatal solche Techniken sind, und dass diese sogar eine psychopathlogische Terminologie haben, musste ich erst viel später schmerzhaft erkennen. Den Teufelskreis, der mir später das Genick auf dem Weg zu beruflichem Erfolg und gesellschaftlicher Anerkennung brechen würde, habe ich also bereits in jungen Jahren unbemerkt losgetreten. Von Trauma zu Trauma In unserer, derart geprägten Bildungswelt kommt man gewiss eher noch als Schüler mit schlechten schulischen Leistungen durch als als einer mit sozialen Defiziten. Was je länger, je mehr paradox wirkt; denn niemand könnte heute angesichts all der Verwerfungen der letzten Jahre, massgeblich verursacht von der politischen und wirtschaftlichen Führungselite unserer abendländisch geprägten Länder, noch behaupten, es gäbe so etwas wie eine funktionelle Sozialität. Was man mir seit jeher angelastet hat – soziale Inkompetenz, aufrührerisches, störendes Verhalten bis hin zum implizierten Vorwurf der Psychopathie – ist mittlerweilen bittere, tägliche Realität geworden. Die allgemeine Empörung ob dieser Zustände bleibt aus, während selbige im Partikulären, auf der Ebene des Individuums, etwa eines verhaltensauffälligen Schülers ständig neue Höhepunkte in Bezug auf Niederträchtigkeit gegenüber dem jeweiligen Individuum erreicht. Nun kann ich nicht sagen, ich hätte allein eine Traumafolgestörung aufgrund dieser selbstzerstörerischen Schulzeit, diesem zu guter Letzt über 13 Jahre dauernden Oddysee, dem ständigen Überlebenskampf, der allgegenwärtig dräuenden Gefahr, zwischen Verachtung und Schmähung durch die Aussenstehenden einerseits und dem eigenen Leistungesanspruch andererseits zerschmettert zu werden. Dass ich bereits zuvor zerschmettert worden, an den inneren Widersprüchen meines Überlebenskonzepts zerbrochen war, wurde mir schliesslich irgendwann, zu spät bewusst, um noch umsteuern zu können. Sich selbst in die Tasche zu lügen, mag ein solches Überlebenskonzept sein, aber wie mit allen anderen derartigen Konzepten auch gilt die alte Weisheit ‚Wenn du bemerkst, dass du ein totes Pferd reitest, steig ab‘ Einfach so weiter zu machen, als ob nichts gewesen wäre, ist naiv bis dumm, jedenfalls dann, wenn es wider besseren Wissens geschieht, was ich in meinem Fall nicht verleugnen kann; denn die Baustellen, die Ursachen für das Geschehene waren erkennbar. Entschuldigen wir es einmal mit tardivem Erwachsenwerden, wobei ich in dieser Frage zugeben muss, spätestens kurz vor meinem 25. Geburtstag zur Erkenntnis gelangt zu sein, nun meine Kindheit und Jugend hinter mir gelassen zu haben. Allerdings musste ich mittlerweilen weit über 40 werden um zu erkennen, dass man ewig vor seinen eigenen Dämonen davonrennen kann, ohne diese Häscher jemals abhängen zu können. So gesehen ist zumindest dies heute Geschichte. eher 20 als 30 Jahre Möglicherweise ist dies unter dem Eindruck der Geschehnisse der letzten 3,5 Jahre erfolgt, wenn ich sage, dass das, was vor 30 Jahren war, heute nicht mehr relevant ist. Der Ernst des Lebens hat entweder bereits vor dem Alter von 14-15 begonnen oder danach überhaupt gar nie. Aus meiner eigenen Perspektive betrachtet war und ist das Leben immer ernst bis todernst. Je nach persönlicher Präferenz mag es eher eine ‚das Glas ist halb voll bzw. halb leer‘ Frage. Mein Glas hingegen war immer schon halb leer, zwangsläufig seit Geburt, da mir alleine gesundheitlich der Start ins Leben nicht gerade einfach gestaltet worden war. Ich mag und kann mich allerdings nicht erfolgreich mit Schicksal aus gefühlter eigener Unfähigkeit herausreden, selbst wenn es von aussen betrachtet durchaus gerechtfertigt wäre. Nebst der dummen Phrase vom irgendwann beginnenden Ernst des Lebens, war eine weitere, ähnlich gelagerte Phrase die, dass man sich nicht ständig mit einer schweren Kindheit oder Jugend aus allem herausreden soll. Mich betreffend habe ich bis heute keine abschliessende Beurteilung vorgenommen, ob ich diesen Versuch je gemacht habe, ihn machen möchte oder ihn in Zukunft noch in Betracht ziehen würde. Gefühlt und aufgrund meiner Prägung und den mir vermittelten Werten, scheint es mir zu billig, mich dergestalt aus meiner eigenen Verantwortung herausreden zu wollen, selbst dann, wenn ich unzweifelhaft erkennen muss, wie widrig die Umstände in meinem Leben leider oft waren, und dass ich vielleicht wirklich gar nie eine reelle Chance hatte, im Leben auf die Art und Weise erfolgreich zu sein, wie ich es mir gewünscht und erträumt hatte. Träume sind Schäume – eine wirklich ernüchternde Erkenntnis. Hier muss ich gewiss einräumen, dass mir meine naiven, pubertären Träume von vor 30 Jahren heute allerdings herzlich egal sind. Der 15-Jährige von damals hat sich mit seinem Schicksal abgefunden – vielleicht zu einem gewissen Grad sogar versöhnt, was mir bei einer Klassenzusammenkunft 2019 bewusst geworden war. Die Erinnerungen und Spuren der letzten 20 Jahre hingegen sind nur schwer auszuhalten. Zu sehr wurde diese Zeit durch I. und ihr Verhalten während der letzten 3-4 Jahre entwertet. Selbst die Jahre vor ihrem Eintritt in mein Leben sind auf diese Weise entwertet worden, dass ihnen heute nichts Positives, nichts Schönes mehr abzugewinnen ist. Was ich exemplarisch an mir selbst durch meine eigene Auseinandersetzung mit Psychotraumata gelernt habe, ist die Erkenntnis, dass die meisten Traumabetroffenen polytraumatisiert sind. Monotraumata sind eine Ausnahme, meist das Ergebnis eines singulären Ereignisses wie einem Unfall. Wer einmal ein Trauma erlitten hat, wird allerdings immer gefährdet sein, weitere zu erleiden. Wie ich gerade bemerke, sträubt sich in mir etwas, weswegen ich mich hier aber nicht weiter darüber auslassen mag. Abschliessen stelle ich fest, dass dies hier der Versuch einer Apologie ist. Streiten wir uns darüber, ob man sich für die Fauxpas seiner Kindheit und Jugend schämen oder entschuldigen muss, ich weiss es nicht. Bei mir sind beide Gefühle präsent, Scham und Schuld – auch etwas, was der traumatischen Natur entspringt – sich ständig zu schämen und schuldig zu fühlen, da wirkt keinerlei Coping effektiv genug gegen an. Vermutlich schäme ich mich für diese überhebliche Lebensauffassung jener Tage vor 30 Jahren, schuldig fühle ich mich hingegen kaum, da ich mir heute das Recht gewähre, mich selbst als Getriebener dieser äusseren Umstände wahrzunehmen. Schlimm ist hingegen die Erkenntnis, dass im verlustbedingten Schmerz jener wirklich befreiten, befreienden und vorallem unschuldigen Tagen von vor 20 Jahren und später sich die Sühne für jene jugendliche Anmassung manifestiert. Andere Menschen sagen, sie hätten keine Reue in Bezug auf ihre Vergangenheit. Ich hingegen habe diese Reue, und ich werde sie vermutlich auch nicht mehr los, egal wie sehr ich es versuche. Alle derartigen Versuche sind bisher erfolglos geblieben. Ganz persönlich Gedanken I.Psychosachen
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